Von der Selbstentfremdung zur Erfindung der Landschaftsmalerei

„Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit“ (Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung)

Martin Jagodzinski malt Landschaften, die vom Wesen der Natur erzählen, indem die stetige Verwandlung ihrer Erscheinungsformen zum Thema gemacht wird. Eindrücke, die der Maler während seiner Reisen an die Ostsee, den Atlantik, das Nordmeer oder in der Mark Brandenburg in Zeichnungen und Fotos festgehalten hat, dienen als Ausgangsmaterial für die freie Komposition im Atelier. Die Landschaften und Seestücke, die so entstehen, sind keine zufälligen Spiegelungen gesehener Landschaften. So wie die Bildnismalerei nicht nur den äußeren Schein, sondern den Charakter des Portraitierten zu erfassen sucht, künden die Landschaften vom Wesen der Natur. Was sich im zeitlichen Nacheinander vollzieht, wird in ein gleichzeitiges Geschehen überführt. Dabei vernetzen sich die Elemente Schritt für Schritt zunehmend in immer größeren Verbindungen, bis sie sich in ihnen verlieren. Dennoch behalten sie ein Eigenleben als Mikrokosmos in der endlosen Weite – als kleine Welt für sich.

Die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitpunkte zeigt sich auch an den Hell-Dunkel-Kontrasten von Meer, Wolken und Licht. Ein tiefes dunkles Meer wird z.B. durch einen hellen, fast immateriellen Strand völlig aufgehoben, so dass sich die Natur stets im Schwebezustand zwischen Entstehung und Auflösung befindet.

Dieses beängstigende Verlorensein im überzeitlichen Wandel der Natur, welches die Landschaftsbilder durch die Darstellung ihrer niemals endenden Bewegung hervorrufen, thematisieren auch die Nachtstücke durch die in der Dunkelheit erlebte Orientierungslosigkeit des Betrachters. Die Landschaft erscheint hier wie die verwirrende Collage von Eindrücken während einer Reise oder eines Fluges. Es bleibt unklar, was der Mensch davon wirklich wahrnehmen und verstehen kann; Erkennbares wird durch Rätselhaftes überlagert. Das Licht ist hell, dringt aber nicht durch die Tiefe. Die Sicht des Betrachters wird auf die mutmaßliche Wahrnehmung eines Insekts reduziert, das nachts von trügerischen Lichtquellen angezogen wird.

Sieht und erfasst ein Mensch im hellen Tageslicht wirklich mehr als in der Nacht? Oder täuscht ihn die Fülle des Tages so, wie die Straßenleuchte das Insekt im Flug durch die Nacht? Das Staunen vor dem unheimlichen Rätsel der Natur, das den Blick des heutigen Betrachters so selbstverständlich ausmacht, ist jedoch erst das Ergebnis eines langen kulturhistorischen Prozesses. Denn die Erfindung der Landschaftsmalerei als autonome Gattung in der Frühen Neuzeit verdankt sich einem sonderbaren Paradoxon: Erst mit dem Beginn der Vergewaltigung und Ausbeutung der Natur durch den Menschen wird die Natur bildwürdig. Erst nachdem sich der Mensch der Renaissance im Bewusstsein völlig von der Natur emanzipiert hatte und die Geschichte der Menschheit nicht mehr als Teil der Naturgeschichte behandelt wurde, war es ihm möglich, den heute so selbstverständlichen ästhetischen Blick auf die Natur zu richten. So wurde die Landschaftsmalerei als Bildaufgabe „entdeckt“, parallel zu den gewaltsamen Entdeckungen neuer Welten im Zeitalter der europäischen Expansion. Damals wurde unsere eigene Natur, die „Natur des Menschen“ also, von uns selbst getrennt und nach außen verlegt. Von dort schaut sie uns seitdem vorwurfsvoll an, wie ein verletztes Tier.

Die Selbstentfremdung des Menschen hat somit die Landschaftsmalerei hervorgebracht, und dieser Vorgang hat sich seit der industriellen Revolution nochmals erheblich beschleunigt. Das erklärt die Melancholie, die sich selbst einem noch so heiteren Blick auf die Natur immer unweigerlich beigesellt; irgendwie bleibt es immer ein Blick zurück ins verlorene Paradies, belastet mit einem biblischen Schuldkomplex. Wenn nun aber das Meer zum Bildthema der Landschaft erhoben wird, potenziert sich dieses Schisma von Mensch und Natur zu mythischer Größe. Denn die endlose Formlosigkeit des Meeres entzieht sich per se jeder Beherrschung durch den ästhetischen Blick des Menschen: alle technischen Hilfsmittel des Landschaftsarrangeurs wie Kulissen, Proszenium oder Repoussoir wirken hier deplatziert und kleinlich. Künstler und Betrachter werden stattdessen gezwungen, mit vollem Bewusstsein in einen vorbewussten Zustand unterzutauchen, ähnlich wie Richard Wagner seine Heldin Isolde in einem unbeschreiblichen und ohrenbetäubendem Getöse von Wogen und Wellen untergehen und mit dem Kosmos eins werden lässt: „Wie sie schwellen, mich umrauschen, soll ich atmen, soll ich lauschen? … in des Welt-Atems wehendem All – , ertrinken, versinken …“

Martin Lade, M. A.

Alienation as a cause for modern landscape painting

„Our feeling for nature is like the feeling of an invalid for health“
(Friedrich Schiller: On naive and sentimental poetry).

Martin Jagodzinski paints landscapes that are characterized by the essence of nature, which is depicted by the constant transformation of its appearance. Impressions that he keeps by drawing and taking photographs during his travels to the Baltic Sea, the Atlantic Ocean and rural areas like the the Mark Brandenburg are used as a starting material for the free composition in the studio. The landscapes and seascapes that are thus created are not accidental reproductions of real sceneries. Just as portraits do not only show the appearance, but rather the character of the depicted person, the landscapes evoke the essence of nature. Events happening in temporal succession are transformed into simultaneous incidents. In doing so, details link step by step increasingly in ever larger connections until they disappear. Nevertheless, they maintain their own life as a microcosm in the endless expanse – as a small world in itself.

The simultaneity of time is also presented by the chiaroscuro of sea, clouds and light. A deep and dark sea is, for example, completely set aside by a light, almost immaterial beach – nature hovers always in a state between formation and dissolution.

This frightening loss in the timeless transformation of nature, that the landscape paitings evoke by depicting their never-ending movement, is also a topic of the nocturnes, given the loss of orientation by the beholder. The landscape here seems like a confusing collage of impressions during a trip or a flight. It remains unclear what people actually are able to make out: Identifiable elements are superimposed by mysterious ones. The light is bright, but does not penetrate the depth. The vision of the viewer is reduced to the presumed perception of an insect that is attracted by deceptive light sources during night-time.

Does a person really see more in the bright daylight than in the night? Or does the abundance of the day rather deceives his perception, as the street light deceives the insect during its flight through the night? However, this respectful amazement towards the awe-inspiring riddle of nature, which goes without saying for today´s modern contemplator of art, is the result of a long process of cultural history. For the invention of landscape painting as an autonomous genre in the early modern period is due to a peculiar paradox: nature only begins to be worthy as a subject of art parallel to the violation and exploitation, that is destruction of nature by man. After the man of the Renaissance had fully emancipated himself from nature, history of mankind was no longer treated as a part of natural history: only now it was possible for him to adopt an aesthetic view towards nature. Thus landscape painting was „discovered“ as a subject for art, parallel to the brutal discoveries of new worlds in the age of European expansion. At that time, our own nature, the „nature of man“, was separated from ourselves and moved outwards. From there, nature looks back at us reproachfully, like a wounded animal.

The self-alienation of man has thus brought into being landscape painting, and this process has considerably accelerated once more since the industrial revolution. This accounts for the melancholy, which is almost inevitably haunting an even more cheerful view of nature; somehow there is always a view back to lost paradise, burdened with a biblical guilt complex. And if the sea becomes a topic of art, this schism of man and nature even grows into mythical dimensions. For the unending formlessness of the sea by itself defies control of the aesthetic view of man from the outset: all the artistic, time-tested instruments of landscape painters, such as stage wings, backdrops, or repoussoir, suddenly appear as inappropriate or produce a mere petty effect. Instead of that, artists and beholders are compelled to submerge consciously into a preconscious state, just like Richard Wagner made his heroine Isolde merge with the cosmos in an epic and deafening roar of waves and surges: “How they swell, sourrounding me, shall I breathe, shall I listen? … in the world-breathing universe, holding all – drowning, sinking …”

Martin Lade, M. A.



Irritierende Farben und das Schauspiel der Natur
Martin Jagodzinskis Gemälde zeichnen sich durch eine detaillierte Wiedergabe von Natur aus. Das Wolkenspiel am Himmel, das tosende Meer oder der dunkle Wald bei nächtlichem Licht sind die Akteure in den oft menschenleeren Bildern. Die Motive basieren auf genauer Beobachtung, Zeichnungen und Fotostudien während vieler Reisen ans Meer.

Jagodzinski überträgt die Motive nie 1:1 auf die Leinwand, sondern komponiert aus vielen einzelnen Elementen neue Landschaften. Der Schaum auf den Wellen des Meeres, die Gischt und die Brandung an der Küste sind dabei nahezu fotorealistisch genau wie auch die Wolkenzeichnung am Himmel. Irritierend wirkt die Farbgebung, denn das manchmal fast fluoreszierend helle Licht verleiht den Bildern eine irreale und übersinnliche Dimension. Selten treten Menschen als beobachtende Zaungäste auf, überwältigt vom Schauspiel der Natur.

Aus der Pressemitteilung zur Ausstellung im GEHAG FORUM Berlin, 2012

Vexing colours and the spectacle of nature

Martin Jagodzinski‘s paintings are characterized by a detailed reproduction of nature. The clouds in the sky, the roaring Sea or the dark forest in the night light are the actors in the often manless pictures. The motifs are based on accurateobservations, life drawings and photo-studies during many trips to the sea.

Jagodzinski never transfers the motifs to the canvas 1: 1, he rather composes new landscapes from many different elements. The foam on the waves of the sea, the spray and the surf on the coast are almost photorealistic as well as the image of clouds drawn into the sky. Irritant is the color, because the sometimes almost fluorescent bright light endows the pictures with an irreplaceable and absurd dimension. Rarely do people appear as onlookers, overwhelmed by the spectacle of nature.

From the press release to the exhibition at the GEHAG FORUM Berlin, 2012


 

Seltsame Realität in einer irrealen Gegenwart

Liebe Gäste, Freunde der Künstlerei und Kunstsinnige! Es ist doch erstaunlich, wie unterschiedlich Künstler die Welt sehen. Natürlich – jeder Mensch sieht die Realität auf seine Weise – aber ihre Transformation in Kunst bedarf doch neben einer wie auch immer gearteten Interpretation einen authentischen Kern. Ein ›Inneres‹, das nach außen projiziert fühlbar macht, was für den Künstler substantiell ist. Dabei geht es nicht um die Frage ›Was will der Künstler damit sagen?‹ sondern vielmehr darum, dass im Betrachter selbst Emotionen geweckt werden, die ihm eine neue, manchmal befremdliche, immer aber bereichernde Sicht auf die Welt vermittelt.

Das ist auch das Spannende daran, neue Menschen kennenzulernen. Wenn sie es zulassen, dass man ihnen ins Herz schaut, kann das sehr bereichernd sein. Allerdings muss man sich natürlich darum bemühen. – Über Smalltalk hinaus einem Menschen wirklich zu begegnen, dauert etwas und ist absolut nicht immer inklusive. – Ein besonderes Geschenk. – Ein Geschenk, das uns Künstler ganz ohne Umschweife machen, indem sie uns ihre Bilder zeigen.

Martin Jagodzinski präsentiert uns mit seinen Arbeiten eine seltsame Realität. Eine, in der Vergangenheit und Zukunft zu einer irrealen Gegenwart verschmelzen, in der es dunkel ist und gleichzeitig hell, in der die Luft wie Wasser schwillt und die uns traumgleich entgegen schimmert. Seine Bilder erscheinen wie Sequenzen einer Erinnerung; wie ein Dejavu-Erlebnis.

Der Blick aufs Meer wirkt vertraut und gleichzeitig befremdlich; manchmal, wenn Rot aufgischtet, bedrohlich, lustvoll oder traurig. Selbst eine Gruppe Badender, die im Wasser planschen kommt angesichts des dräuenden, tiefen Himmels über ihnen eher bedrückend daher. Es ist nicht, was es ist. Die Bilder Martin Jagodzinskis sind Landschaften auf den ersten Blick. Seestücke, Bauten, Menschen … mit fast fotografischer Genauigkeit portraitiert und hervorragend gemalt. Aber irgendetwas 

stimmt nicht. Auf jedem Bild. Es ist schwer fassbar, was das ist; man kann es vielleicht vergleichen mit dem Gefühl, das einen beschleicht beim nächtlichen Weg durch einsame Straßen auf dem Weg von einem Fest nach Hause. – War da was? Oder mit der Spannung, die in der Luft liegt wenn man irgendwo eingeladen wird und das Paar hat sich gerade gestritten.

Man spürt förmlich, wie es knistert, in den Bildern von Martin Jagodzinski – aber wenn man nachsieht, ist da nichts. – Vielleicht nur eine Spiegelung… Man wendet sich ab, aber muss immer wieder zurücksehen, zu dem Einfamilienhaus und sich fragen: Was ist da passiert? Überhaupt kann man seinen Blick schwer abwenden, denn die Bilder sind gleichzeitig von großer Ästhetik.

Farblich kraftvoll und sicher, harmonisch im Aufbau und spannungsreich in Licht und Schatten. Es sind Arbeiten, die in moderne Häuser passen, die in ihrer Einzigartigkeit die Individualität und den Stil ihrer Bewohner widerspiegeln und die den Anspruch der Kunst deutlich machen, mehr zu sein, als ein Stück Dekoration. Kunst – und insbesondere die Bilder von Martin Jagodzinski ist der zeitgenössische Blick auf die Gesellschaft der Gegenwart, auf Strömungen und Potentiale, die unterhalb von lifestyle ihre Wirkung haben und nicht zuletzt auf ein Stück Seele des Künstlers. 

Anja Es, zur Ausstellung 2011 in Lübeck

Strange reality in an unreal present

Dear guests, friends of the Künstlerei and artistry! It is amazing how different artists see the world. Of course – every human being sees reality in his own way – but its transformation into art requires an authentic core in addition to any interpretation. An “inner” being projected outwards, which is substantial for the artist. It is not a matter of “what does the artist want to say?” but rather that the viewer himself arouses emotions that give him a new, sometimes strange, but always enriching view of the world. This is why it is exciting to get to know people. If they allow one to have look into their thoughts, it can be very enriching. However, one has to make the effort of course. – Beyond the small talk, to actually really meet a person really takes a lot, and it is not always granted. – A special gift which artists give us without any deviation, by showing us their pictures.

Martin Jagodzinski presents a strange reality in his works. One, that merges past and future into an unreal present, in which it is dark and at the same time bright, in which the air swells like water, and which gleams like a dream. His pictures appear like sequences of a memory, like a dejavu experience. The view of the sea is familiar and at the same time disconcerting, sometimes when red pours, threatening, lustful or sad. Even a group of bathers, who splash in the water, comes rather oppressing, because of the dreary, deep sky above them. It is not what it seems. Martin Jagodzinski’s pictures are landscapes at first sight. Seascape, buildings, people … with almost photographic precision portrayed and painted excellently. Yes something is wrong. On every picture. It is hard to comprehend what is going on. One can compare it perhaps with the feeling that arises while walking nightly paths through lonely streets on the way home. – Is there anything? Just like the tension that is in the air when being invited somewhere and the couple has just had a quarrel.

You can literally feel how it crackles in the pictures of Martin Jagodzinski – but when you have a look, there is nothing. – perhaps only a reflection … One turns away, but always looks back to the family house and asks: What happened there? However, it is difficult to turn the eyes away, for the pictures are of great aesthetics. Farblich kraftvoll und sicher, harmonisch im Aufbau und spannungsreich in Licht und Schatten. Es sind Arbeiten, die in moderne Häuser passen, die in ihrer Einzigartigkeit die Individualität und den Stil ihrer Bewohner widerspiegeln und die den Anspruch der Kunst deutlich machen, mehr zu sein, als ein Stück Dekoration. Kunst – und insbesondere die Bilder von Martin Jagodzinski ist der zeitgenössische Blick auf die Gesellschaft der Gegenwart, auf Strömungen und Potentiale, die unterhalb von lifestyle ihre Wirkung haben und nicht zuletzt auf ein Stück Seele des Künstlers.

Colorfully powerful and strong, harmonious in construction and rich in light and shade. These are works that fit into modern houses, which, in their uniqueness, reflect the individuality and style of their inhabitants, and stake the claim of art to be more than a piece of decoration. Martin Jagodzinski’s paintings are in particular the contemporary look at the contemporary society, at currents and potentials which have an impact beyond lifestyle, and not least a look at the soul of the artist.

Anja Es, exhibition in Lübeck 2011

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